Geht das?

4.Mai 2021

In letzter Zeit beschäftigt mich der Umgang der Menschen mit unterschiedlichsten Meinungen, Bewertungen und Zuschreibungen zu den Corona-Maßnahmen. Sie empfinden ein Auf und Ab, Für und Wider, sind abwechselnd getrieben von Optimismus, Hoffnung, Frust und Aggression. Sie verteidigen ihre eigenen Positionen, was manchmal auch zu Abwertungen und Verurteilungen der jeweils anderen Personen führt. Die Sachseite wird schnell verlassen und zum Beziehungsproblem. Die eigene Wahrheit wird zur generellen erklärt. Es entsteht eine Verhärtung der Positionen. Dabei steht dahinter auf beiden Seiten eine Sehnsucht, anerkannt zu werden. Nur darüber wird nicht gesprochen. Und das passiert im Businessbereich ständig. Was tun, wenn die eigenen Werte nicht wahr-genommen, die eigene Wahrheit also nicht ernst genommen wird? Und wenn es uns selbst schwerfällt, die Sichtweisen der anderen nachzuvollziehen.

Welche Fragen dazu sollten wir uns selbst beantworten? Wir müssen erst unser inneres Erleben verändern, bevor wir bei anderen Verständnis erzielen. Wie geht das?

Als erstes ist zu überlegen, aus welcher Position heraus ich andere Meinungen betrachte: bin ich verletzt, fühle ich mich unterlegen? Sind dies alte Reaktionsweisen auf andere, kritische Äußerungen? Verhalte ich mich immer dann anderen gegenüber abwertend? Was stört mich am anderen bzw. seinen Ansichten?

Im Grunde genommen heißt die an die Wurzel unseres eigenen Übels gehende Frage:

Was ärgert mich an der Sichtweise, an der Aussage des anderen? Und was hat das mit mir selbst zu tun. Nach Lüscher folgt einer Selbstabwertung zwangsläufig eine Fremdabwertung- also Selbsterhöhung. Wieso ist das so?

Wir sehen nur das, was wir sehen wollen – und ärgern uns!

Wir sehen im anderen immer auch ein Teil unserer selbst. Und zwar den, den wir in uns abspalten mussten. In der Kindheit sind unsere Möglichkeiten, das zu leben, was wir sind, durch Normen, Regeln, Werte und Glaubenssätze unserer Eltern eingeschränkt worden. Dabei sind wir meistens für das belohnt worden, was für die anderen gut (konform) war und wir wurden für das bestraft, was nicht dazu passte. So haben wir gelernt, dass bestimmte in uns angelegte Eigenschaften „schlecht“ sind. Die duften wir nicht leben. Wir haben sie in unserem unbewussten Safe eingeschlossen und mit dem Etikett „Schlecht für meine Persönlichkeit“ versehen. „So darf ich nicht sein“. Eingeschlossen heißt aber nur „aus dem Sinn“. Sie sind ja noch da, denn sie gehören ja zu uns, wie unsere Augen und Ohren. Sie warten im Untergrund unserer Persönlichkeit auf ihre Freilassung. Und die passiert immer dann, wenn wir sie in anderen Menschen entdecken. Doch da sie das Etikett unserer gelernten Lebenseinstellung „So darf ich nicht sein“ tragen, generalisieren wir sie: „So darfs du, darf niemand sein“. Wir verurteilen den anderen für etwas, was uns selbst abhandengekommen ist. Und gleichzeitig liegt hier eine immense Chance, diese Seite in uns wieder zu integrieren. Als unsere wieder befreite Ressource. Meistens stellen diese Unterschiede lediglich Pole auf einer gleichen Ebene dar.

Eine Annäherung, den anderen mit seiner anderen Sicht auf die Dinge besser zu verstehen und den eigenen Entwicklungsknoten zu erkennen, möchte ich mit dem Wertequadrat von Paul Hellwig anbieten. Ich nenne meine Abwandlung Ressourcenquadrat. (eine ausführliche Beschreibung im Business-Kontext habe ich hier hinterlegt: Ressourcen im Quadrat (ressourcentraining.org). Wie immer im Leben gibt es zwei Seiten einer Medaille. Wir können uns über die Ansichten eines anderen Menschen ärgern. Dann kommen wir meistens nicht zusammen. Allerdings lernen wir dann auch nichts. Oder wir können ein paar Erkenntnisse aus dieser Situation ziehen, die nicht nur die Beziehung, sondern auch uns selbst weiterbringen.

 Lichtseite

Arbeit mit dem Ressourcenquadrat

Ein Beispiel- Vorgehen in vier Schritten: Frau M. ist von ihrem Chef genervt. Er hat sie mehrfach vor allen anderen Teammitgliedern rüde kritisiert und ihre Leistungen abgewertet. Sie schreibt ihm auf die Frage, welche seiner Eigenschaften sie dabei besonders triggert, das Attribut „aggressiv“ zu (1). Das ist die Schattenseite, wie sie von Frau M. wahrgenommen wird. Im nächsten Schritt stellt sie ihren Gegenpol dazu dar, also ihre Lichtseite: sie ist beschreibt sich als “immer sachlich“ (2). Nun geht es an die Schattenseite von Frau M. : sie erinnert sich an Momente, in denen die Eigenschaft, sachlich zu sein, weniger bis gar nicht erfolgreich gewesen ist (3). Da fallen ihr einige Situationen ein. In denen fühlte sie sich bei Gesprächen oder Verhandlungen eher unbedeutend. Der letzte Schritt beleuchtet jetzt die Lichtseite ihres Chefs (4). Sie überlegt, ob es nicht auch Vorteile gibt, wenn jemand aggressiv reagiert. Da kommt Frau M. auf die Idee, dass diese Eigenschaft, entsprechend dosiert, auch eine Kompetenz sein kann, nämlich sich durchzusetzen. Nun merkt sie, dass sie diese Lichtseite ihres Vorgesetzten noch nie betrachtet hat. Und sie kann davon sogar lernen. Sie überlegt jetzt, wie sie diese Aggression angemessen in die Situationen übertragen kann, in denen sie sich eher unbedeutend und weniger überzeugend empfindet. Sie beschließt erste Schritte, durchsetzungsfähiger zu werden.

Die Entwicklung hat also bei dem Vorgehen mit dem Ressourcenquadrat immer die Richtung (2) zu (4). So kann die eigene Schattenseite (3) bearbeitet werden.

Wir haben jetzt verstanden, wie anders der uns bisher irritierende Mensch tickt und was wir idealerweise daraus sogar lernen können. Die weitaus größere Herausforderung in unserer Zeit ist es, der anderen Person zu verzeihen. Was den meisten Menschen schon im privaten Leben schwerfällt, ist im Business noch weniger kultiviert. Zu verzeihen wird dabei oft verwechselt mit einem persönlichen Schuldeingeständnis oder Kotau vor dem anderen, letztendlich mit Schwäche. Doch Verzeihen und Vergeben ist für mich in erster Linie ein innerer kognitiver und emotionaler Prozess. Eine Selbsterkundung. Wir können auch dann sehr viel über unsere Konstruktion der Wahrheit erfahren. Ob wir dann dem anderen auch menschlich entgegenkommen, ergibt sich meist von ganz allein.

Dem eigenen Anteil auf die Spur kommen- raus aus der selbst gelegten Denkfalle

Es ist genauso ungewöhnlich wie auch spannend, den Fokus auf den eigenen Anteil an dieser Situation zu richten. „Vor den Türen anderer kehren“ nennt sich das im Volksmund, wenn wir oft zu schnell und selbstverständlich geneigt sind, dem anderen die Schuld an der eigenen Misere zu geben. Dabei sind es doch unsere eigenen Nerven, unser eigener Blutdruck, unser Unbehagen, unsere Schlaflosigkeit. Wir übertragen dem anderen dafür die Verantwortung…und es geht uns keinen Deut besser. Der „Krieg“ in unserem Inneren geht weiter. Oder er flammt bei der nächsten Gelegenheit wieder auf.

Colin Tipping hat mit seinem Modell der Radikalen Vergebung eine Möglichkeit geschaffen, Frieden mit sich selbst zu schließen. Wenn wir unseren eigenen Anteil an dem Unwohlsein erkennen und akzeptieren kann, gehen wir entsprechend aufgeklärter auf die vermeintlich Schuldigen zu.

Verfolgen wir also gemeinsam mit Frau M. aus unserem obigen Beispiel den Verlauf des Verzeihens in vier Schritten.

Schritt 1: Schau, was ich kreiert habe.

Was sich spirituell anhört, hat die Quantenphysik bestätigt: wir erschaffen uns unsere Realität selbst. Und aus diesen inneren Bildern, die wir lebhaft auf unsere Realität projizieren, schlussfolgern wir auf andere, generieren wir unsere Gefühle für diese. Frau M. kommt nach einiger Zeit zu dem Schluss, dass sie sich selbst diesen Chef „geschaffen“ hat. Die Erkenntnis aus dem Ressourcenquadrat hilft ihr, ihren eigenen Anteil zu erkennen: durch ihre sachlich-ruhige und duldende Art hat sie ihren Chef unbewusst dazu eingeladen, "von oben herab" mit ihr umzugehen. Das passiert ihr übrigens öfter. Sie trifft immer wieder auf menschliche Gegenpole, denen sie „ihre Wange hinhält“. Der Grund: sie war sich selbst nie wirklich gut genug. Das verurteilt sie an sich selbst. Und hier liegt die Basis, sich selbst zu verzeihen:

Schritt2: Ich bemerke, meine Urteile und Gefühle und liebe mich dennoch.

Dieser Schritt ermöglicht es uns, unsere Menschlichkeit mit all ihren Stärken und Schwächen, Höhen und Tiefen, Selbstbeurteilungen und -überzeugungen anzuerkennen und liebevoll anzunehmen. Wenn wir dies jedoch klar erkennen, bewahren wir unsere Bewusstheit und können mit unseren Gefühlen und unserem authentischen Selbst in Kontakt bleiben. Für Frau M. bedeutet dies: sich mit ihrer Person ins Reine zu bringen. Anerkennen, dass sie mehr kann als sie denkt. Beispiele zu finden, in denen sie sich als genügend, als ebenbürtig mit anderen empfindet. Sie findet daraufhin Situationen, in denen sie zunächst sich und dann auch anderen Personen bewiesen hat, dass sie kompetent ist (Moments Of Excellence). Und sie erkennt, was ihr in den Momenten fehlt, in denen sie sich abgewertet fühlt: Liebe, und Anerkennung. Sie stellt fest, dass sie dies in erster Linie sich selbst schenken muss. Und beschließt Schritte, mit denen sie sich selbst etwas Gutes tut und in ihrer sachlichen Ruhe auch eine wichtige Stärke sieht.

Schritt 3: Ich bin bereit, die Vollkommenheit in der Situation zu sehen.

Diese Bereitschaft ist der wichtigste Schritt im Prozess Verzeihens. Das als schrecklich empfundene Ereignis mit dem Chef (das ja offensichtlich ein generelles ist) wird betrachtet als etwas dem Leben Übergeordnetes. Colin Tipping nennt es „Göttliche Vollkommenheit“. Ich übersetze es so in den Alltags-Kontext: Es gilt zu erkennen, dass diese Situationen, welche so oder ähnlich immer wiederkehren, eine für unser Leben existenzielle Bedeutung haben. Wir werden  immer wieder in Situationen geschickt, die unsere Routine herausfordern. Unsere gewöhnlichen Denkweisen sind in frühester Kindheit konditioniert worden. Diese Momente, die uns emotional niederschlagen, sind dazu geeignet, wieder diejenigen Potenziale zu stärken, die seit dieser Konditionierung zurückgedrängt wurden. Jetzt können wir uns davon abschrecken lassen und verzweifeln; dann treten sie wieder auf. Oder wir nehmen sie als Lernchance. Um wieder ganz die Person zu werden, die wir sind. Dieser Perspektivwechsel von der Situation mit dem Chef zu deren Symptomatik für ihr zurückliegendes Leben bestärkte Frau M. in ihrem Lernprozess aus Schritt 2.

Schritt 4: Ich entscheide mich für die Kraft des Friedens.

Der vierte Schritt ist die Konsequenz der vorangegangenen Schritte. „Frieden“ meint hier die Art von Dankbarkeit und Gelassenheit, die wir fühlen, sobald wir bereit sind, die Allgemeingültigkeit der verhassten Situation zuzulassen. Sozusagen eine Vollkommenheit zu erkennen. Die besteht darin, dass diese Vorkommnisse nicht zufällig geschehen, sondern irgendwie unbewusst geplant sind. Dass die Erkenntnis „So etwas passiert mir immer wieder“ eine Aufforderung des Unbewussten ist, eigene Potenziale zu erkennen. Diese Einsicht, gibt uns die Kraft, die wir brauchen, um in der Welt vollständig bewusst zu handeln.

Probieren auch Sie dieses Vorgehen aus, wenn Sie mal wieder an einem Limit stehen. Mit anderen Menschen oder herausfordernden Situationen. Die vier Schritte des Verzeihens können sie als Training jeden Tag einsetzen. Denn Gelegenheiten, mit etwas zu hadern, liefert uns gerade die aktuelle Zeit genug.

Ich unterstütze gerne und freue mich auf den Kontakt. Es lohnt sich! Klicken Sie hier.

 

Zum Seitenanfang